Am 3.10.2020 haben mehrere Kundgebungen in Magdeburg stattgefunden, Anlass war der „Tag der Deutschen Einheit“. Im folgenden dokumentieren wir unseren Redebeitrag, den wir auf der Kundgebung „30 Jahre Kapitalismus und immer noch nicht frei!“ gehalten haben.
Grüßt euch, geschätzte Kolleg:innen,
wir haben uns heute hier unter dem Motto: „30 Jahre Kapitalismus und immer noch nicht frei!„ versammelt. Heute steht uns das 30. Jubiläum des sogenannten “Tag der deutschen Einheit” ins Haus. Inzwischen dürfte so manche hochgestellte Erwartung aus den Tagen der “Wende” bei vielen Menschen weitgehender Ernüchterung Platz gemacht haben. Vom “Aufschwung Ost” ist in den Medien schon lange nicht mehr die Rede und die versprochenen “blühenden Landschaften” locken gerade mal noch ein müdes Lächeln hervor. Dennoch hat sich in den 30 Jahren so einiges getan. Wer heute Magdeburg nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder besucht, wird es sicher kaum wiedererkennen. Zahlreiche Neubauten prägen das ehemals großflächig unbebaute und grüne Stadtzentrum und so mancher Gründerzeitbau wurde vor dem endgültigen Verfall bewahrt. Auf der anderen Seite gibt es heute in der „Stadt des Schwermaschinenbaus“ kaum noch Industrie. Bezeichnend dafür ist die Zahl der Arbeiter:innen in den einstigen Großbetrieben SKET, SKL und MAW. Die Belegschaften sind – so überhaupt noch vorhanden – auf einen Bruchteil des DDR-Niveaus geschrumpft, die übriggebliebenen Restbetriebe kämpfen um ihr wirtschaftliches Überleben.
Auch 30 Jahre nach der Annexion der ehemaligen Gebiete der DDR durch die BRD sind die wirtschaftlichen und sozialen Erwartungen und Versprechen nicht eingetroffen.
Dabei sammelte sich vor über 30 Jahren in der DDR eine hoffnungsvolle neue linke Opposition bestehend aus Umweltbewegung, Kirche von Unten, Intellektuellen und Betriebsaktivist:innen. Am Anfang der Montagsdemonstrationen hießen die Parolen noch durchaus vielversprechend: „Sozialisierung von Parteieigentum“ oder „Stasi in die Produktion“. Die Herrschenden der SED hatten es geschafft, einen riesigen bürokratischen Apparat aufzubauen und den sozialistischen Traum in den grausten Farben zu malen, nicht im Interesse der werktätigen Klasse, sondern im Sinne der autoritären Parteifunktionär:innen. Dass von Parteifunktionär:innen generell nie wirklich viel zu erwarten ist, zeigten westdeutsche Politiker:innen in und unmittelbar nach den Wendejahren. Denn der versprochene „Aufschwung Ost“ stellte sich als Verkauf des ehemaligen „Volks“-Eigentums heraus. Der Kapitalismus zeigte dabei frühzeitig sein wahres Gesicht in Gestalt der Treuhand. Im Jahr 1991 verkaufte die Treuhandanstalt z. B. die Magdeburger Armaturenwerke an die Deutsche Babcock AG. Diese AG konnte jedoch den Betrieb unter den geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht mehr profitabel weiterführen. So wurde aus dem VEB, der Weltmarktführer im Armaturenbau mit über 8.000 Beschäftigen war, ein Branche mit wenigen Hundert Beschäftigten. Vielen anderen VEB’s erging es ähnlich: sie wurden von westdeutscher Konkurrenz geschluckt oder still gelegt. Die Betriebe, die der ersten Welle der Privatisierungen noch entronnen waren, wurden durch die folgende und eilig herbeigeführte Währungsreform konkurrenzunfähig und damit unrentabel gemacht. Diese Angriffe wurden aber in einigen Betrieben nicht einfach hingenommen. Der wohl bekannteste Protest, der zum Symbol für den Kampf gegen die Treuhand und die Deindustrialisierung des Ostens wurde, fand bei den Kumpeln des Kalibergwerkes in Bischofferode in Thüringen statt. Dort gingen im Sommer 1993 nach zahlreichen Protesten und der Werksbesetzung dutzende Arbeiter:innen in den Hungerstreik. Das Ziel lautete Erhalt des Werkes und seiner Arbeitsplätze. Dass ihr Werk nicht mehr konkurrenzfähig sein sollte, konnte sich keiner der Kumpel vorstellen. Wie auch? 1989 lag Kali Ost, zu dem auch das Werk in Bischofferode gehörte, auf Rang 3 der Exportweltrangliste noch vor Kali West der BRD. Zudem wurde das Werk erst in den 80er Jahren mit modernster Technik ausgestattet und die Vorräte reinen Salzes waren noch auf Jahrzehnte im Boden gesichert. Trotz der eigentlich vielversprechenden Ausgangsbedingungen und des massiven Protestes wurde das Werk Silvester 1993 geschlossen. Den hungerstreikenden Arbeiter:innen blieb lediglich ihre erkämpfte Abfindung in Höhe von 7.500 Mark. Für die Werksschließung machten die Arbeiter:innen aber nicht nur die Treuhand, die im Interesse der westdeutschen Industrieverbände die „Marktbereinigung“ durchführte, sondern auch korrupte Führer der DGB-Gewerkschaften IG Bergbau und Energie sowie der IG Chemie verantwortlich. Diese drangen den ostdeutschen FDGB zur Auflösung, übernahmen dabei zwar ihre Mitglieder, allerdings ohne den ostdeutschen Gewerkschaftsaktivisten:innen Gehör zu schenken. Denn gerade auch die von den DGB-Gewerkschaften verfochtene Standortlogik, diente der westdeutschen Industrie als Steigbügelhalter. Diejenigen Arbeiter:innen, die sich nunmehr der Arbeitslosigkeit ausgesetzt sahen oder in privatisierten Betrieben weiterarbeiteten, traten zumeist enttäuscht aus der Gewerkschaft aus. Auch dies machte es der Treuhand, und mit ihr den westdeutschen Kapitalisten so leicht, die ostdeutsche Industrie zu enteignen. So konstatiert der Journalist Dirk Laabs, dass „die eigentliche Funktion der Treuhand […] die Enteignung der Ostdeutschen von ihrer Wirtschaft, vom Volkseigentum, und das zugunsten der Industrie im Westen“ war. Der anerkannte Wirtschaftswissenschaftler Otto Köhler fügt hinzu, dass „die Treuhandanstalt […] die größte Geschenk- und Enteignungsagentur der Welt [war], für wenige Tausende ein reicher Segen, für Millionen ein Fluch.“
Doch warum beschäftigen wir uns eigentlich noch mit diesem alten Kram? Zum einen, weil wir die Auswirkungen der sogenannten Wende auch heute noch spüren können. In unseren als strukturschwach bezeichneten Regionen arbeiten wir länger und bekommen weniger Lohn. Zum anderen, zeigen uns die Geschehnisse, dass wir solche neoliberalen Angriffe nicht unbeantwortet lassen dürfen. Geschehnisse wie sie sich in Bischofferode abgespielt haben, sind Teil einer widerständigen Kultur, der wir uns als FAU verpflichtet fühlen. Umso erfreulicher ist es, dass spätestens seit Mitte der 2000er Jahre immer wieder neue Arbeitskämpfe aufflammen, wie bspw. 2007 in Nordhausen bei Bike Systems, wo die Arbeiter:innen aufgrund der drohenden Schließung ihren Betrieb kurzerhand selbst übernahmen. Auch widmete sich die ostdeutsche Linke neben dem antifaschistischen Selbstschutz wieder vermehrt dem Themenfeld der Klassenpolitik. Feministisches, kollektives Denken oder auch Wohnraumpolitik rückten wieder stärker in den Fokus. Wir als Freie Arbeiter:innen Union begrüßen diese Entwicklungen ausdrücklich! So nehmen wir gerade in den letzten Jahren ein wachsendes Interesse an klassenkämpferischen Basis-Gewerkschaften in unserer Region wahr. Das ist gut und enorm wichtig, denn die bestehenden Verhältnisse bringen wir nur ins Wanken, wenn wir uns gemeinsam organisieren und unsere Kämpfe zusammenführen. Dabei müssen wir endlich wieder in die Offensive gehen und zwar dort, wo wir leben und arbeiten! Sei es in den Fabriken, den unzähligen Callcentern, in der Schule, der Hochschule oder in unseren Wohnvierteln.
Für eine solidarische und freie neue Welt, abseits von Ausbeutung und Unterdrückung! Danke, eure FAU Magdeburg.
Für mehr Informationen zu unserer Gewerkschaftsinitiative besucht unsere online-Kanäle oder trefft uns jeden 1. Dienstag im Monat ab 20 Uhr im Nachdenker zum offenen Tresen.